DR. LANDRY CHARRIER über “EUROPAS CHANCEN IN DER NEUEN WELTUNORDNUNG”
RÜCKBLICK AUF DIE EUROPAVORLESUNG AM 06.12.2023
Aktuell steht die EU vor gewaltigen Herausforderungen – in der unmittelbaren Nachbarschaft, aber auch im Indopazifik, dem „Epizentrum eines globalen Wettstreits” (Josep Borrell). Am 06.12.2023 luden die Europäischen Studien zu einer neuen Ausgabe der Paderborner Europavorlesungen ein. Zu Gast, zugeschaltet aus Bonn: Dr. Landry Charrier. Als Spezialist für die deutsch-französischen Beziehungen und als ehemaliger Leiter des Institut français in Bonn, sowie Attaché für Wissenschafts- und Hochschulkooperation in Den Haag, arbeitet er aktuell als wissenschaftlicher Referent für den DLR-Projektträger in Bonn (Europäische und bilaterale Kooperation). Er ist Co-Produzent des Frankreich-Podcasts Franko-Viel. Im März 2023 hat er die Leitung der traditionsreichen deutsch-französischen Zeitschrift “Dokumente” übernommen. Anhand von fünf Thesen erläuterte Dr. Landry Charrier an diesem Abend “Europas Chancen in der neuen Weltunordnung“.
33 % der Europäer*innen denken, dass die EU zerfallen wird
Lange Zeit gab es ein Klima des Optimismus in Europa, „Ein Kontinent wuchs zusammen”. Es schien, als könnte alles gelingen. Durch die Polykrise, darunter die Finanzkrise, die Migrationspolitik-Krise und den Brexit, kippte dieser Optimismus. Hießen Buchtitel vorher “Ein Kontinent wächst zusammen” (Dirk Schümer), so las man auf den Buchrücken fortan Titel wie “Europadämmerung” (Ivan Krastev). Eine Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR) 2023 zeigt, dass „33 % der Europäer*innen glauben, dass die EU in den nächsten 20 Jahren zerfallen wird.“ In seinem Vortrag geht Dr. Landry Charrier davon aus, dass die “Dämmerung Europas” (Ivan Krastev) ein Mythos ist. Die Handlungsfähigkeit der EU liege darin, dass sie eine Lerngemeinschaft sei. Wie kann die Union den zunehmenden geopolitischen Druck bewältigen? Welche Möglichkeiten haben Deutschland und Frankreich, neue Instrumente zur Handlungsfähigkeit zu entwickeln?
- Die EU als eine Lerngemeinschaft
„Die EU ist eine Lerngemeinschaft. Sie lernt in Krisen. Diese werden nicht nur überwunden, sondern haben Werkzeuge geliefert.“ So wurde laut Dr. Landry Charrier zusammen die Eurokrise überwunden und neue Instrumente der Handlungsfähigkeit entwickelt. Durch die Finanzkrise 2008 und 2009 wurde die Bankenunion gegründet, als Reaktion auf die Coronakrise wurde ein Wiederaufbaufonds eingerichtet, und im Ukrainekrieg einigten sich die Mitgliedstaaten schnell auf Sanktionen.
- “Der Krieg als Vater aller Dinge hat eine Konvergenz zwischen Deutschland und Frankreich herbeigeführt.”
Dr. Landry Charrier geht mit der oben aufgestellten These davon aus, dass die Zeitenwende, des Ukrainekriegs, zeigt, dass sich das
sicherheitspolitische Verständnis von Deutschland an Frankreich annähere, man „erkenne die geopolitische Realität an“. In den wichtigsten Punkten teilen Deutschland und Frankreich ähnliche Positionen. Frankreich sei bereit für eine Zeitenwende. Deutschland und Frankreich seien sich mittlerweile einig, dass es Europäische Souveränität brauche und dass sie dazu verdammt seien, zusammenzuarbeiten. Jedoch stellen sich hier auch Herausforderungen in den Weg, denn laut Umfragen von The Berlin Pulse 2022/23 „wollen nur 38 % der Deutschen ein stärkeres Engagement Deutschlands in der Welt und das Vertrauen in Frankreich ist schwächer als in 2022“.
- Der US-amerikanische Wahlkampf: Eine Chance für europäische Souveränität?
Emmanuel Macron sagte einst: ”Paradoxerweise macht es mich optimistisch, dass die Geschichte Europa wieder tragisch wird“. Als Macron seine Präsidentschaft begann, war Trump Präsident der USA. Als Staatsoberhaupt galt dieser oft als unzuverlässig. So kündigte er beispielsweise den Atom-Pakt mit dem Iran auf. In Zeiten, in denen sich Deutschland nicht auf die transatlantische Achse verlassen konnte, wurde das europäische Engagement gestärkt. Mit Joe Biden als Präsidenten hat sich diese Tendenz, laut Charrier, allerdings wieder geändert. Im Ukrainekrieg hätte sich Deutschland vor allem auf die Kooperation mit den USA verlassen. Im Angesicht des bevorstehenden Wahlkampfes in den USA und eines möglichen Comebacks Donald Trumps, könnte das allerdings wiederum ein Erstarken der europäischen Kooperation bedeuten.
- Die Schwierigkeiten der deutschen Haushaltspolitik als Chance für die EU
Europa gibt 340 Milliarden Euro pro Jahr für Verteidigung aus, das ist fast so viel wie in den USA. Deutsche Haushaltsprobleme seien eine Chance für Deutschland. Kooperationen im Rüstungsbereich in Europa seien bedeutend, um Geld zu sparen. Um den Verteidigungsbereich auf ein neues Level zu hieven, und zwar dringend, sagte Macron in einer Rede „Europa muss handeln, und zwar jetzt“. Handeln gehöre zu den Verben, die Macron am häufigsten benutzt habe. Europäische Souveränität sei „eine absolute Notwendigkeit in unserem gefährlichen Umfeld“ (Macron). Deutschland und Frankreich müssen den Dialog mit Mittel- und Osteuropa halten und viel mehr in die Gestaltung der Länder einbeziehen.
- Die Herausforderungen der EU
Die Herausforderungen der EU sind globaler Natur und lassen sich nicht auf einen einzigen Konfliktherd reduzieren. Dabei erinnere Macron als einer der wenigen an die Notwendigkeit, eine „360 Grad Perspektive“ einzunehmen. Deutschland und Frankreich positionieren sich zu allen geopolitischen Fragen. Eine „Zwangsehe“ zwischen Deutschland und Frankreich sei notwendig, Macrons und Scholz Visionen über die EU seien ohne deren Zusammenarbeit nicht möglich. „Wir erleben einen Kanzler, der wenig an Frankreich interessiert ist, zögerlich ist, die USA als Maß aller Dinge betrachtet (also genau das Gegenteil: Scholz ist zögerlich mit Blick auf die Vorschläge Macrons, aber er zögert nicht, was seine Einschätzung der USA betrifft). Laut Landry Charrier „würden 28 % der Deutschen auf Frankreich setzen, als Sicherheitspartner, im vorherigen Jahr waren dies noch 33 %“.
Mit einem Zitat der Dichterin Ingeborg Bachmann aus dem Jahr 1951 unterstreicht Dr. Landry Charrier abschließend seinen Optimismus bezüglich der Möglichkeit einer europäischen Souveränität „Im Widerspiel des Unmöglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten“. Pessimismus sei keine Lösung, denn wir haben Gründe, optimistisch zu sein, die EU komme voran, wenn auch langsam, angesichts der weltpolitischen Lage müsse man aber Gas geben.
Dr. Landry Charrier gibt allen Teilnehmenden mit auf den Weg, dass der zentrale Punkt hier ist, dass jeder einzelne von uns sich mit Texten und Reden befassen solle, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Abschließend sagt er: „In meinem Leben war mir eine Erfahrung stets wichtig: Nur neues Denken eröffnet neue Chancen. In düsteren Zeiten betrachte ich es auch als unser aller Aufgabe, Europa nach vorne zu träumen”.
Fotos: Esma Sokolovic
Text: Esma Sokolovic
Redaktion: Esma Sokolovic